Es ist der 11. Oktober abends. Ich liege in unserer Kajüte und denke über unsere Reise nach. Morgen ist der 12. Oktober und damit jährt sich der Tag unserer Abreise. Ein Jahr sind wir dann schon unterwegs. Und was wir schon alles gesehen haben! Angefangen bei der Einreise nach New York, die Niagarafälle, dann Toronto, Ottawa und Montréal, wir haben Kanada mit dem Bus durchquert, waren im Yellowstone und sind jetzt auf dem Pazifik Richtung Asien unterwegs. Noch während ich darüber nachdenke, werde ich von den Wellen langsam in den Schlaf gewiegt.
Und der nächste Tag soll ein neues Abenteuer bereithalten. Wie gewohnt gehen wir um halb acht zum Frühstück. Das hört sich zwar recht früh an, aber durch die häufige Zeitumstellung (sieben Mal eine Stunde in den letzten zehn Tagen) fühlt es sich für uns eher an wie um halb drei Nachmittags. Wir frühstücken im gleichen Raum wie die Besatzung und während des Essens entspinnt sich ein langes Gespräch, in dem die Seeleute von fremden Ländern und über ihre Abenteuer auf See erzählen.
Afrika, so erzählen sie, sei zwar ein unsicheres Pflaster, aber mit den Waren von dort lasse sich immer noch ein bisschen dazu verdienen. Da hat einer eine Ladung Holzelefanten aus Afrika mitgebracht und sie gewinnbringend in Deutschland verkauft. Ein anderer hat in Nigeria einen Ottokatalog herumgezeigt und ist dann der inoffizielle offizielle Vertreter von Otto in Nigeria geworden.
Der Suezkanal wird unter Seeleuten auch Marlboro-Kanal genannt, weil man sich mit einigen Stangen dieser Zigaretten eine problemlose Durchfahrt sichern kann. Der Kapitän, ein Nichtraucher, habe extra einen ganzen Vorrat dabei.
Die Crew auf diesem Schiff besteht aus Philippinern und Europäern, was auf Frachtschiffen nicht unüblich ist. Vom Kapitän erfahren wir, dass es aber auch andere Besatzungen gibt, bei der die Crew seltsame Gewohnheiten mitbringt. Er erzählt über die Bewohner einer Inselgruppe bei Australien, mit denen er einmal gefahren ist. Sie sammelten morgens fliegende Fische ein, die durch das niedrige Freibord (also die Höhe der Reling von der Wasserlinie aus) über Nacht an Bord fliegen konnten. Die Fische wurden dann direkt an Ort und Stelle verspeist. Auch die Seemöwen, die manchmal das Containerschiff des Nachts als Rastplatz nutzten, waren vor der Crew nicht sicher. Sie schlichen sich an und fingen die Möwen mit der bloßen Hand ein. Nur als einem der Seeleute einfiel, sich eine Möwe als lebenden Proviant in der Kajüte zu halten, musste der Kapitän dann doch sein Veto einlegen.
Während wir uns noch unterhalten, kommt plötzlich eine Durchsage: Eisberg an Steuerbord! Wir fahren durch arktische Gewässer und warten schon lange darauf, endlich mal einen Eisberg zu sehen. Also beenden wir kurzerhand unser Frühstück und gehen hoch auf die Brücke. Und tatsächlich, da treibt majestätisch und kalt ein Eisberg in einiger Entfernung im Meer. Doch noch mehr kann ich entdecken, als ich eines der großen Ferngläser nehme, die hier für die wachhabenden Offiziere bereitliegen. Etwa auf halber Strecke vor dem Eisberg treibt eine Eisscholle im Wasser, auf der sich etwas bewegt. Ich mache den Offizier auf der Brücke darauf aufmerksam und nach einer Weile stellt er fest: Das muss ein Eisbärenjunges sein. Was macht ein Eisbärenjunges so weit draußen auf dem Meer? Wir werden es wohl nie erfahren, aber ohne unsere Hilfe wird es wohl kaum den nächsten Tag überleben. Schon gibt der Offizier seine Anweisungen über Mikrofon an die Matrosen und wir begeben uns an Deck, um auch ja nichts zu verpassen. Als erstes kommt der Koch aus seiner Kombüse. Er hält geschälte, aufgeschnittene Zwiebelhälften in der Hand. Als die Scholle immer näher heran kommt, holt er aus und wirft sie zielsicher dem Eisbären vor die Nase. Wir wundern uns etwas, beobachten aber, was passiert. Und tatsächlich, der Eisbär schnüffelt daran und schon schießt ihm das Wasser in die Augen. Als es gefroren ist, und er nichts mehr sieht, werfen ihm einige Matrosen von Deck aus einen große Plane über den Kopf, an der große Seile befestigt sind. Hilflos und blind wie er ist, wehrt er sich zwar und brüllt und zappelt, aber er verheddert sich dabei nur immer weiter in der Plane. So können ihn die Matrosen langsam an Bord ziehen. Er wird in einem großen Käfig in der Werkstatt untergebracht.
An diesem Abend sammeln wir die fliegenden Fische an Deck ein und gehen hinunter, um den Eisbären zu füttern. Er hat sich inzwischen etwas beruhigt und frisst brav seinen Fisch. Plötzlich höre ich ein Geräusch aus der Dunkelheit weiter hinten in der Werkstatt. Ich gehe hin und entdecke unter einer Decke einen Käfig, in dem eine Möwe traurig mit den Flügeln schlägt. Gleich daneben steht eine mit Plane zugedeckte Kiste, aus der einige Holzelefanten hervorschauen. Darunter entdecke ich einige Kartons mit der Aufschrift „OTTOversand“. Als wir am Abend ins Bett gehen, schütteln wir den Kopf über so einen verrückten Tag.
Am nächsten Morgen schauen wir vor dem Frühstück in der Werkstatt vorbei. Der Eisbär, die Möwe und die Kisten sind verschwunden. Auch den 12. Oktober hat es für uns nie gegeben, denn wir sind an diesem Tag über die Datumsgrenze gefahren und so folgte auf den 11. gleich der 13. Oktober. Die Geschichten allerdings, die haben wir so gehört und es bleibt unseren Lesern überlassen, ob sie sie glauben, oder nicht.